Jeden Nachmittag beobachtete die Streetworkerin Ayten Köse eine Gruppe Jungen, die auf der Straße direkt vor ihrem Neuköllner Büro rumhingen. "Die waren so neun, zehn Jahre alt. Und ständig haben sie den einen gehänselt. Es wurde immer schlimmer", erzählt sie. Schließlich sprach sie den Jungen an. Der druckste rum. Es sei, na ja, wegen seiner Mutter, ihren Männern und so. Die Mutter veranstaltete kleine Shows für den Sohn und seine Freunde. Wenn die ihn zu Hause besuchten, dann zeigte sie ihnen gern einen Pornofilm. Ab und zu durften sie auch zuschauen, wie sie mit einem Liebhaber Sex hatte. "Natürlich habe ich die Mutter angesprochen", sagt Ayten Köse. "Aber die hat nur gesagt: "Ich weiß gar nicht, was sie wollen. Das ist doch nur Sex. Ist doch ganz normal"."
Bernd Siggelkow ist ein evangelischer Pfarrer. "Bernd, Bernd. Trägst du Tangas?", ruft eine Neunjährige durch den Speisesaal. "Der Freund von meiner Mutter hat immer so superscharfe Dinger an." Siggelkow lächelt etwas verlegen. 1995 hat er in Berlin-Hellersdorf die "Arche" gegründet. Dort finden die Kinder aus dem Viertel, was sie in ihren Familien nicht bekommen: Zuwendung, Erwachsene, die sich mit ihnen beschäftigen, und eine warme Mahlzeit. In den vergangenen Jahren hat Siggelkow eine deutliche Veränderung an den Kindern festgestellt. "Das Leben dieser Kinder ist komplett sexualisiert", sagt Siggelkow. Oft kommen die Kinder mit ihren Problemen zu ihm. "Gerade gestern erst wieder eine Elfjährige. Die wollte wissen, ob sie noch normal ist, weil sie noch nie Sex hatte."
Wenn Siggelkow mit den Eltern der Arche-Kinder spricht, dann fast immer mit den Müttern. "Väter gibt's hier nicht." Manche Mütter beklagen sich, dass ihre Kinder sie stören. "Dann frage ich, wobei die stören. Und die antworten: beim Sex." Siggelkow trifft Mütter, die sich entscheiden, "mal lesbisch auszuprobieren". Weil sie es im Porno so schön finden. Er trifft Mütter, die nicht verstehen, dass es ihre Kinder verstört, wenn sie beim Sex mit fremden Männern die Schlafzimmertür offen lassen. Er trifft Mütter, "bei denen Sex das absolute Highlight ihres Lebens ist". Meistens das einzige.
Sex als Erfolgserlebnis
Die Beziehungen verändern sich rasant, insbesondere in der Unterschicht. Die Männer sind häufig nicht mehr die Ernährer der Familie. Diese Rolle übernimmt immer öfter der Staat. Das macht es den Partnern leichter, sich zu trennen. Männer und Frauen sind immer weniger eine ökonomische Einheit, immer weniger Schicksalsgemeinschaft, immer weniger Lebenspartner. Was bleibt, ist die Sexualität. Sie bekommt eine neue Wichtigkeit. Gerade im Leben vieler Frauen. Ohne gute Schulbildung, ohne Berufsausbildung haben Frauen heute keine realistische Chance auf einen guten Job. Für Frauen aus der Unterschicht ist es daher häufig schwierig, Anerkennung zu erfahren, gelobt zu werden, erfolgreich zu sein. Doch in der Sexualität, da können sie "erfolgreich" sein. Die Sexualität wird umgedeutet. Sie bekommt eine neue Rolle, eine neue Funktion im Leben. Sex wird das, was für andere der Beruf ist, das Studium, der Sport oder das Spielen eines Instruments - die Möglichkeit, den eigenen Ehrgeiz auszuleben und zu befriedigen.